Historie
Die Gründung 1852
1851 begann Hermann Baur sein Studium an der Universität Gießen, und er und sein Bruder Gustav gründeten einen Lesekreis, der später zu einem Wingolf-Verein werden sollte. Otto Zöckler, der vom Marburger Gymnasium kam, sowie Otto Schlapp und Friedrich Meyer, zwei Mitglieder des “Nassauer Hofs” (eine Vorläufergruppe der 1851 gegründeten Gießener Burschenschaft Germania), waren zentrale Mitglieder des Vereins. Der Rektor der Universität, Friedrich Gotthilf Osann, unterstützte den Verein. Der Verein knüpfte Kontakte zu den Wingolfen in Halle und Marburg. Nachdem die Mitglieder des Vereins das Wartburgfest des Wingolfs 1852 in Eisenach besucht und am Stiftungsfest des Hallenser Wingolf teilgenommen hatten, bei dem sie von Tholucks Rede begeistert wurden, beschlossen sie die Gründung eines eigenen Wingolfs.
Am 1. August 1852 wurden die Statuten verabschiedet und am 15. August fand die Stiftung in der Gaststätte “Zur Spießpforte” auf der Burg Gleiberg bei Gießen statt, die seit etwa 1860 den Namen “Zum Schwarzen Walfisch” trägt. Das seit 1852 gültige Prinzip des Wingolfs ist überkonfessionell angelegt, da die gesamte damalige Erweckungsbewegung nicht konfessionell gebunden war. Das Prinzip besagt, dass der Wingolf eine Studentenverbindung ist, die sich zum Ziel gesetzt hat, den Glauben an Christus, der die gesamte Menschheit erfüllen soll, zum Fundament zu machen, durch das sowohl das wissenschaftliche Arbeiten als auch das persönliche Leben allseitig geläutert und durchdrungen werden sollen.
Im Gegensatz zu anderen Verbindungen (auch Wingolfsverbindungen) legten die Gießener Statuten die Führung der Verbindung in die Hände von zwei Präsides (Erster (x) und Zweiter (xx) Präses), die alle sechs Wochen neu gewählt wurden. Die Bezeichnungen Senior und Kneipwart wurden explizit vermieden.
In der Zeit des Nationalsozialismus
Die nationalsozialistische Machtübernahme führte im Gießener Wingolf zu Spannungen. Der Verband Alter Wingolfiten (VAW) setzte auf Druck der neuen Machthaber das Führerprinzip und einen Arierparagraphen durch. Der Gießener Philisterverein lehnte den Arierparagraphen ab, konnte aber aufgrund der zentralistischen Führung des VAW den Durchgang nicht verhindern. Dadurch kam es zum Ausschluss und Austritt einiger Philister aus dem Gießener Wingolf.
In der aktiven Verbindung gab es einen Konflikt zwischen Gegnern und Befürwortern der nationalsozialistischen Diktatur, was zu Austritten auf beiden Seiten führte. Der damalige Fuchsmajor Karl Zeiß versuchte als Mitglied der Bekennenden Kirche, die Mitglieder gegen politische Einflüsse zu wappnen. Er organisierte einen Kreis von Studenten, die an illegalen Predigerseminaren der Bekennenden Kirche in Frankfurt am Main teilnahmen. Diese standen unter der Androhung der Nichtanerkennung des theologischen Examens.
Andere vom Nationalsozialismus überzeugte Gießener Wingolfiten kämpften gegen die politisch oppositionell gesinnten Bundesbrüder. Als eine durch evangelische Theologen geprägte Verbindung litt der Gießener Wingolf unter dem Kirchenkampf zwischen Bekennender Kirche und Deutschen Christen.
Dies und die Verweigerung der geforderten Zwangseingliederung in den Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund führte zur Vertagung des Gießener Wingolf am 31. Oktober 1935. Anders als in anderen Wingolfsverbindungen kam es damit in Gießen nicht zu einer kurzzeitigen Umwandlung in einen christlichen Arbeitskreis ohne korporative Form. Der Philisterverein bestand zunächst weiter, da ein Liquidationsverfahren dadurch erschwert wurde, dass er Eigentümer des Hauses war.
Nach dem Verbot der Studentenverbindungen und der Auflösung des Wingolfsbundes am 24. Februar 1936 wurde das Gießener Wingolfshaus zum zentralen Bundesarchiv aller aufgelösten Wingolfsverbindungen, weswegen der Bundesarchivar des Wingolfs Otto Imgart mit seiner Ehefrau Dagmar Imgart auf das Haus zog. Nach langen Verhandlungen um das Haus und das Archiv wurde der Philisterverein am 2. Februar 1939 aufgelöst.
Das wingolfitische Leben in Gießen beschränkte sich fortan auf informelle Philistertreffen, die auf dem Wingolfshaus stattfanden; die „Mitteilungen aus dem Gießener Wingolf“ erschienen unter dem Tarnnamen „Gleiberg 1852“ bis 1943.
Um den Orientalisten Alfred Kaufmann und weitere Wingolfiten wie die Pfarrer Ernst Steiner und Adolph Kalbhenn entstand ab 1940 der so genannte Kaufmann-Will-Kreis, eine bürgerliche Gruppe mit widerständigem Verhalten gegenüber der nationalsozialistischen Diktatur in Gießen in Form systematischen Hörens von ausländischen Rundfunksendern, oppositionellen Diskussionen und Boykott von NS-Sammlungen.
Den lose organisierten Treffen drängte sich Dagmar Imgart, die Ehefrau des Bundesarchivars, auf, die als überzeugte Anhängerin des Nationalsozialismus für die Geheime Staatspolizei spitzelte und als agent provocateur die Verhaftung der Teilnehmer am 6. und 7. Februar 1942 ermöglichte. In der Folge wurden Alfred Kaufmann und Heinrich Will zum Tode verurteilt, Ernst Steiner und weitere Teilnehmer von den Machthabern ermordet
Die Wiedergründung nach dem Zweiten Weltkrieg
Nach dem Zweiten Weltkrieg verboten die Besatzungsmächte alle bis dahin bestehenden deutschen Vereinigungen, darunter die Studentenverbindungen.
Eine mögliche Wiedergründung des Gießener Wingolfs wurde neben der Zerrissenheit innerhalb der Philisterschaft aufgrund der NS-Diktatur dadurch erschwert, dass die Hessische Ludwigs-Universität bedingt durch die großen Zerstörungen als einzige Universität Westdeutschlands aufgelöst wurde und lediglich eine „Justus-Liebig-Hochschule für Bodenkultur und Veterinärmedizin“ bestand.
Die Rekonstitution des Philistervereins wurde am 12. September 1946 durch die Behörden der Militärregierung genehmigt. Das Wingolfshaus, das anders als andere Korporationshäuser in Gießen die Bombardements 1944 und 1945 nahezu unbeschadet überstand, wurde am 30. April 1947 von der Militärregierung beschlagnahmt, weswegen das Bundesarchiv des Wingolfs in einem leeren Getreidespeicher untergebracht werden musste. Im Folgenden wurde das Haus durch die Amerikaner renoviert und dort ein Jugendhaus errichtet (German Youth Activites, GYA).
Am 95. Stiftungsfest der Verbindung Mitte August 1947 stellte der Philisterverein nach eigener Darstellung einstimmig sein Bedauern über die Durchführung der Rassegesetze nach 1933 und den dadurch bedingten Austritt einiger Wingolfiten fest und beschloss eine entsprechende Wiedereintrittsregel.
Der Philistervorstand begann die Vorbereitungen zu einer Wiedergründung der aktiven Verbindung, unter anderem mit einer Flugblattaktion im Mai 1948 und zwei darauf folgenden Treffen mit interessierten Studenten. Die feierliche Wiedergründung fand am 4. Dezember 1948 mit acht Aktiven im bei Gießen gelegenen Kloster Schiffenberg statt.
Trotz steigender Neumitgliederzahlen erwies es sich als schwierig, ein Verbindungsleben zu gestalten, da die Verbindung weder über ein eigenes Haus noch andere Räumlichkeiten verfügte. In Absprache mit der GYA konnte das Haus für Veranstaltungen genutzt werden; ab 1951 stand teilweise ein Kellerraum zur Verfügung.
Im Februar 1952 wurde der Philisterverein als rechtmäßiger Eigentümer des Hauses anerkannt, musste es aber weiter an die GYA und nach deren Liquidation im Folgejahr an die Stadt Gießen vermieten, die es weiterhin als Jugendheim nutzte. Seit Oktober 1957 befindet sich das Haus wieder unter Kontrolle des Gießener Wingolfs, der es nach Renovierungsarbeiten am 9. November desselben Jahres bezog
Neuere Entwicklung
1990 gründeten der Bonner, Marburger und Gießener Wingolf die bereits von 1873 bis 1932 bestehende „Diezer Konvention“ neu, die sich als inhaltlicher Zusammenschluss sieht mit dem Ziel, die christlichen und korporativen Werte des Bundes zu erhalten. Ursachen waren die offene Infragestellung des Männerbundprinzips im Wingolf und die Aufnahme von ungetauften Mitgliedern in einigen Wingolfsverbindungen. 1991 traten der Kieler Wingolf und die Wingolfsverbindung Chattia zu Würzburg der Konvention bei, die sich seither jährlich an den wechselnden Hochschulorten trifft. Kurze Zeit später erreichten die Konventionsmitglieder, dass alle Wingolfsverbindungen von ihren Mitgliedern ein deutliches Bekenntnis zu Jesus Christus als ihrem Herrn verlangen. Die Verpflichtung der christlichen Taufe für alle Wingolfiten wurde von der Mehrheit der Verbindungen abgelehnt.
Mitte der 1990er Jahre kam es zu nationalistischen Tendenzen in der Wingolfsverbindung Ottonia Magdeburg und im Jenenser Wingolf, die den erheblichen Widerstand insbesondere des Gießener und des Freiburger Wingolf hervorriefen, die diese als unvereinbar mit dem Wingolfsgedanken ansahen und nicht mitzutragen bereit waren. Die Auseinandersetzungen drohten zeitweilig in einen neuen Prinzipienstreit zu münden und fanden 1997 unter der Vorortschaft Gießens mit dem Ausschluss der Ottonia Magdeburg ihr Ende, den der Wingolf mit Dreiviertelmehrheit beschloss. Im Sommer 2002 feierte der Gießener Wingolf sein 150. Stiftungsfest mit einer Festrede des damaligen thüringischen Ministerpräsidenten Bernhard Vogel zum Thema „Akademiker – Kapital für die Zukunft“ in der Aula der Universität.
Unser Archiv dokumentiert über 170 Jahre Korporationsgeschichte in Gießen. Für spezifische Anfragen im stehen wir zur Verfügung.
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